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Texte - Karoline Bröckel
Unvorhersehbares Zeichnen, sehen

Unvorhersehbares Zeichnen, sehen

Karoline Bröckel zeichnet, was sie sieht, was sie hört. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Flug einer Schwalbe, den Wegen einer Ameise, fallendem Regen oder Schnee, den vom Wind bewegten Ästen eines Baumes. Sie sieht diesen spurlosen Bewegungen zu oder hört (manchmal wieder und wieder) ein Musikstück. Im Moment ihres Schauens, Hörens – eine Phase völlig konzentrierten Bei-der-Sache-Seins – überführt sie diesen kontinuierlichen Impuls der Bewegung unmittelbar in Linien, sie sind eine direkte, detaillierte Nachschrift des Gesehenen, Gehörten. Ihr Blick gilt dabei ausschließlich dem Vorgang. Das Zeichnen ist allein Sache der blinden Hand, des blicklosen Arms. Zeichnend konzentriert sich die Künstlerin ganz auf die Bewegung. Nichts sonst findet Eingang in die Arbeit. Ob das Entstandene eine stimmige, gültige Zeichnung ist, ergibt sich erst in einem Prozess späterer Betrachtung und Anerkennung. Zu sehen sind Linien, Linienverläufe, Striche, Strichstrukturen. Was sie motivierte ist unsichtbar, unwichtig. Lediglich ein knapper Hinweis im Titel der Werke verweist auf das Gesehene, Gehörte.

Auch wenn die Zeichnungen Karoline Bröckels Einzelarbeiten sind, so entstehen sie doch als Gruppen, Serien, werden einmal begonnen über Jahre weitergeführt, um immer neue Varianten erweitert. Einige Serien haben ihre (Jahres)Zeit, die eine ist abhängig vom Flug der Schwalben, andere vom Schneefall, den Rufen des Zilpzalps oder der Blüte bestimmter von Hummeln und Bienen frequentierter Pflanzen. Ebenso folgt jede Gruppe Regeln, die die Wahl des Zeichenmaterials - Bleistift oder Tintenstift -, Formatentscheidungen und den eigentlichen Arbeitsprozess betreffen.
Jede dieser Gruppen und Serien zeigt markante Eigenarten, die sie von den anderen abhebt. Die langen horizontalen Bahnen, die jähen Kurven und elegant-eigenwilligen Schleifen der „o.T. (Schwalbe)“ bezeichneten Reihe unterscheidet sich klar von den Zickzacklinien der Werkgruppe „o.T. (Ameisen)“. Die von akustischen Impulsen motivierten Blätter sind von konsequent vertikalen Strichführungen bestimmt, strengen, nachgerade sachlich-gleichmäßigen in den Zeichnungen der Serie „o.T. (Zilpzalp)“ und in allen Gradationen der Bewegung, des Drucks, der Dichte, des (Un)Gleichmaßes in denen der Serie „o.T. (Musik)“.

Einerseits lösen sich die Zeichnungen von ihren Anlässen. Und doch scheint etwas vom Wesen dieser eigentlich spurlosen Ereignisse in den Blättern auf. Deutlich werden Bewegungseigenheiten der Tiere, der Naturphänomene. Qua Assoziation – die kargen Titelzugaben setzen sie in Gang – begleiten mitunter Vorstellungen, mehr oder weniger deutliche eigene Bilder, Erinnerungen die Zeichnungen und sei es bloß als ein fernes Echo, als Reminiszenz, die angesichts der Präsenz der Zeichnung, des unmittelbar Sichtbaren schwach bleibt. Und doch mag das seltsam ausholende Auf und Ab der Linien der „o.T. (Birken)“- Arbeiten etwas von dem Hin und Her, Auf- und Niederschlagen der vom Wind bewegten Äste und Zweige festhalten und das nachgerade Perkusive eines des auf den Boden prassenden Regens wird im heftigem, eilig Stakkato der kurzen hiebartigen Bleistiftstriche zumindest als Ahnung gegenwärtig. Ebenso zeigen die Blätter der Schnee-Reihe diverse Arten des Schneiens, schwebendes und fallendes, vom Wind verwehtes, allmähliches Sinken, schnelleres Trudeln oder Stürzen der Flocken lassen sich unterscheiden. Das je Eigene des Naturereignisses findet sich - übersetzt, verwandelt - wieder im Ereignis der Zeichnung.

Eine Ausnahme unter den sonst stets auf ein bestimmtes Ereignis, eine Handlung reagierenden Zeichnungen Karoline Bröckels ist die 2006 begonnene Werkgruppe „o.T. (Stapelstriche)“, die ohne äußeren Anlass, ohne direkten Gegenstandsbezug entsteht. Der Titelzusatz “Stapelstriche“ benennt, was zu sehen ist: Kurze, mehr oder weniger längengleiche horizontale Striche, einer über dem anderen, dicht an dicht und doch ohne Berührung platziert, bilden vertikale, stets leicht bewegte, von winzigen Abweichungen geprägte Formationen oder Streifen. Streifen, die das Blatt als Senkrechte durchziehen, mal in lotrechter Strenge und Genauigkeit, mal wie schwankend, kippend mit leichten Biegungen, Krümmungen. Die Anzahl dieser Strichstapel variiert von Blatt zu Blatt, ebenso können die Abstände zwischen ihnen gleichmäßig, wie gemessen sein oder frei gewählt, einer Intuition folgend. Es scheint als würde etwas gemessen oder gezählt, etwas Fortwährendes, dem unterschiedlich lange Unterbrechungen ebenso zu eigen sind wie das Gleichmäßige. Welchem Takt das gleichmäßige Setzen der Striche folgt, bleibt offen. Ohne einen im Titel annoncierten Anlass folgt Karoline Bröckel einem eigenen Impuls, stapelt Striche (als wären diese etwas Dingliches), einen über dem anderen, bis das Blatt aller Leere zum Trotz gefüllt, bis es Zeichnung ist.

Das Zeichnen Karoline Bröckels ist ein konzentrierter Akt. Es gilt genau bei der Sache zu sein, zu bleiben und jedes Bewegungsdetail, jeden minimalen Richtungswechsel, das Kreisen auf kleinstem Raum, ein Verharren und ebenso plötzliche, unvorhersehbare Wendungen, Kehren im Fluss der Linie oder in winzigen Kürzeln nachzuvollziehen. Und mehr noch, eine rasche, von abrupten Umschwüngen im dreidimensionalen Raum geprägte Verläufe, die augenblicklich in die Zweidimensionalität der Zeichnung überführt werden müssen. Es gilt dieses Eine im Blick, im Ohr zu behalten, alle Aufmerksamkeit dort, beim Laufweg einer Ameise oder dem Ruf eines Vogels zu halten und das so Wahrgenommene Linie werden zu lassen. Auch wenn dieses Nach und Nach des Zeichnens für den Betrachter, die Betrachterin im Alles zugleich des Gezeichneten vor Augen steht, initiiert es eine vergleichbare Konzentration des Sehens, einen Nachvollzug, der der einzelnen Linie gilt (und ebenso ihrer Gesamtheit, ihrem Zusammenspiel, ihrem Durch-Einander), ihren Wegen und Umwegen, ihrer Einmaligkeit folgt, wie die Künstlerin im Zeichnen ganz der gesehenen Bewegung folgt, sich ihr überlässt.

Zeichnend, Linien ziehend verfolgt Karoline Bröckel sichtbaren (hörbaren) aber spurlosen Vorgängen, übersetzt sie in ihre Zeichnungen. Minutiös hält sie sich ans Gesehene, Gehörte, arbeitet stets vor, mit dem Gegenstand. Der interessiert ausschließlich sie in seinen je eigenen Bewegungsformen und -möglichkeiten, seinem Agieren im Raum. Seien sie weiträumig wie der Schwalbenflug oder kleinteilig, nahezu auf der Stelle stattfindend wie die Winzigkeitsbewegungen Nektar sammelnder Hummeln und Bienen. In den Aufzeichnungen, den zeichnerischen Bewegungsmitschriften Bröckels werden daraus von aller Gegenständlichkeit losgelöste Linienwerke. Die Linie selbst - in allen ihren Erscheinungsformen, etwa als kurze, vertrackt verlaufende, plötzlich abbrechende Einzelheit oder als plastisch anmutende Kumulation oder als gegliederte, aber undurchschaubar dichte Strichstruktur - wird zum Ereignis.

Die Arbeiten Karoline Bröckels sind nicht allein Linie. Diese ereignet sich vor, auf, im Weiß des Papiers. Alles Mögliche ist dieses Papierweiß: Material und Grund, Träger der gezeichneten Linie, Bedingung der Möglichkeit einer Linie, ihr Spielfeld, ihr Entfaltungsbereich; nicht zuletzt Leere, die von der Linie erschlossen, gefüllt wird. Es kann Raum werden, wenn das Gefüge der Linien selbst als plastisch-Konstellation lesbar wird, wie es prägnant in den Blättern der die Bewegungen von Ästen und Zweigen einer Birke festhaltenden Arbeiten der Fall ist. Oder in ganz anderer Weise in den mitunter wie schwebenden, geschichteten dichten Strichlagen der „o.T. (Musik, Aufzeichnungen)“-Arbeiten, die das Papier als hellen, räumlich offenen Hintergrund erscheinen lassen.
Nicht zu übersehen ist die tragende, dem Linearen gleichgewichtige, gleichwertige Rolle des Papierweiß in der jüngst begonnenen Werkreihe „o.T. (Zilpzalp)“. Großzügig scheinen die Bereiche zwischen den Kolonnen kurzer, präzise nebeneinanderstehender Striche bemessen. Auffallend variieren die Abstände zwischen den an eine Zählung erinnernden horizontalen Strichreihen. Das Weiß wird zum Zwischenraum, lässt an eine Unterbrechung des mit dem Tätigkeitszeichen der Striche Vermerkten denken. Das Weiß ist hier Stille, Zwischenzeit, ein zu durchmessender Zeitraum. Tatsächlich handelt es sich um die zeichnerische Umsetzung des Rufs eines Zilpzalps; der lautmalerische Name des Vogels beschreibt seinen einfachen Gesang. Jeder Lauteinheit dieses Rufens entspricht einem der zeilig notierten Striche. Unterbricht der Vogel seinen Gesang führt Karoline Bröckel im Tempo des Striche Setzens den Stift weiter, ohne das Papier zu berühren, macht es zum sichtbaren Zeitmaß der Ruhe, solange, bis der Zilpzalp wieder zu hören ist und eine entsprechend lange oder kurze Strichreihe seinen Gesang verzeichnet. Bricht das Rufen schließlich ganz ab, bleibt das Papier weiß, unberührt, leer und doch ist es auch hier, immer noch eine Zeichnung des Zeitverstreichens.

Die Zeichnungen sind im Prozess ihrer Entstehung, im Zeichnen nicht abzusehen. Unvorhersehbar ergeben sie sich mit der Zeit, mit Blick auf etwas oder in Reaktion auf Hörbares. Was sie wird, wird sich zeigen. Eine der Zeichnung vorausgehende Vorstellung kann es nicht geben. Nur so, als etwas Unvorhergesehenes können sich diese Linien, Linienüberlagerungen, diese Schlängel, Kritzel, Kürzel, Knäule, Schwünge, Ausgriffe, krummen Kurven, Rückwendungen, Überschneidungen ergeben. Auszudenken, zu erfinden sind sie so wenig wie sie als bloße Gesten, expressiver Ausdruck oder Befindlichkeitszeichnen entstehen können. Indem Bröckel von einem eigenen Ausdrucksbedürfnis absieht ergibt sich die ganze Eigen- und Einzigartigkeit des von ihr Gezeichneten. Indem sie die Linie von ihren Absichten entkoppelt, sie dicht an die Impulse ihrer Bewegungsmodelle bindet wird sie zur Überraschung. Befremdlich, auf seltsame Art schön, planlos neu und unerklärlich in ihrem Dahinziehen, Gleiten, Stürzen, Zögern, Abbrechen. Sie lässt die Linie frei. Zeigt sie als Bewegungsereignis, als Kondensat einer sich stets bewegenden, also verändernden Welt. Die Zeichnung hält all das fest, hebt es auf.

Jens Peter Koerver






 
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